Freitag – 17.07.2003
von Astorga nach Ponferrada (noch 260 km bis Santiago)
Die Nacht war sehr erholsam, ich habe unterm Dach in einem sehr geräumigen 50-Betten-Saal, der jedoch mit nur mit 10 Leuten belegt war, gleich am offenem Fenster geschlafen; dennoch, einer schnarcht immer. Seit heute pilgere ich nun mit Barbara und Resi weiter, wir frühstücken zusammen, ich hatte schon Tee gekocht. Unsere Tagesration hatten wir bereits am Vorabend eingekauft, weil die beiden aus ihrem Reiseführer wissen, dass wir heute in eine etwas einsamere Gegend kommen, und da möglicherweise keine Einkaufsmöglichkeit mehr haben.
Start also um halb neun. Heute etwas verspätet, die beiden, vielleicht müde von den Strapazen des Vortages, hatten etwas länger geschlafen. Nach zwei Stunden begegnen wir den Fußpilgern wieder, die als erste schon um halb sechs losgezogen waren.
Heute werden wir die Meseta – Hochebene verlassen; wir haben die Montes de Leon erreicht und befinden uns am Fuß der Somossaberge. Diese Bergkette gehört zum Kantabrischen Scheidegebirge, das die Meseta in einem großen Bogen umschließt. Eine größere Herausforderung steht uns heute bevor. Doch zunächst verlassen wir steil abfallend den Bergkegel von Astorga. Dann folgt eine fast ebene Wegstrecke, die zunächst ganz allmählich, dann aber immer stärker ansteigt. Barbaras kennt aus ihrem Reiseführer einen kleinen Umweg. Auf ihren Rat hin machen wir diesen Abstecher und gelangen etwas abseits vom camino in ein idyllisches, historisches, mit viel Liebe wieder hergerichtetes Dorf, Castrillo de los Polvazares. (castrillo=zu einer Burg gehöriges Dorf? polva = Staub/Asche?). Die Dorfstrasse ist in der Mitte mit großen, – durch die Erosion sehr abgerundeten, – rechteckigen Steinquadern, und an den Rändern mit faustdicken Kieselsteinen, holprigen Flusssteinen, gepflastert.
Für uns Radfahrer ist das eine Mühsal, denn sowohl da rauf zu fahren als auch das Rad darüber zu schieben ist anstrengend, nicht auszudenken, ginge es für den Rest des Weges so weiter. Zu beiden Seiten der Dorfstrasse schmucke, manchmal mit Stroh bedeckte Häuser. Das gesamte Dorf steht, wie übrigens der ganze camino, unter dem besonderen Schutz der UNESCO als Weltkulturerbe.
Bevor wir nun den wirklich sehr langen und steilen Anstieg wagen, füllen wir beim Ortsausgang am Kirchbrunnen unseren Wasservorrat nochmals wieder auf. Oben auf den Kirchturm zieht ein Storchenpaar in einem Nest seine Jungen auf. Wir sind jetzt auf ça 950 Höhenmeter angelangt und müssen noch 500m hoch steigen. Auf dieser Bergstrecke durchfahren wir vom Namen her so ganz vertraute Dörfer wie El Ganso, Rabanal del Camino und Foncebadon, klangvoll und zielversprechend die in der Camino – Literatur immer wieder sehr malerisch, fast romantisch beschrieben werden. Wäre da nur nicht diese Bruthitze; das ist heute das Schlimmste, was ich bisher durchmachen musste. Absteigen ist verboten, sonst kommt man nicht mehr aufs Rad, so habe ich es bereits gelernt, also nutzte ich die ganze Straßenbreite aus, und fahre mal wieder im Zickzack, um mich Meter für Meter hochzuschrauben.
In Rabanal legen wir im Schatten der Herberge eine Verschnaufpause ein. In Foncebadon müssen wir schon wieder unseren Wasservorrat auffüllen, mein heutiger Flüssigkeitsbedarf liegt sicher schon bei sechs Litern Wasser und wir sind noch immer nicht oben angelangt. Knapp 2 km vor dem Pass merkt Barbara, dass Sie ihre Sonnenbrille im letzten Dorf am Brunnen liegen ließ. Die Entscheidung fällt schwer, doch sie beschließt zurückzufahren. Oben am Cruz de Hiero warten wir dann auf sie.
Nun endlich, endlich oben angekommen; auf 1505 m Höhe ist hier der höchste und einer der markantesten Punkte des ganzen Camino erreicht. In aller Einsamkeit kann ich hoch oben zurückschauen bis Astorga, ja sogar bis Leon wo ich noch gestern Morgen war. Vor uns die sich auftürmende, – wie mit einem Grasteppich bedeckte kahle Bergwelt, – und ganz weit unten, weit voraus sieht man schon weiße Dampfwolken, die des Kraftwerkes von Ponferrada.
Rechts des Pilgerweges, da steht es nun, dieses schlichte Eisenkreuz hoch oben auf einem Holzpfahl befestigt, umgeben von einem vielleicht fünf Meter hohen Steinhaufen. Steine, die traditionsgemäß jeder Pilger von zu Hause mitbringt, um gleichsam symbolisch seine ganz persönliche Last, seine Sorgen und Nöte abzuladen, ja vielleicht auch, um sich von einer irdischen Mühsal zu befreien. Das haben Pilger nachweislich auch schon in vorchristlicher Zeit getan, diese Tatsache erlaubt den Schluss, dass es damals schon eine Form des Pilgerweges gegeben haben muss mit dem Ziel, das westliche Ende der damals bekannten Welt zu erreichen. So wie alle das tun, lege auch ich meinen Stein hier ab, den ich von zu Hause mitgebracht habe, einen „Stein“ den ich nun schon seit fast zwei Jahrzehnten aufbewahre. Ihn bekam ich einmal von einem lieben Menschen geschenkt und er hatte schon eine sehr weite Reise bis zu mir hinter sich. Dieser gesellt sich nun zu all den anderen Sorgensteinen. Sehr schwerem Herzens tat ich das und ein heftiger Schmerz der Trennung bewegte mich in diesem Augenblick, dass ich meine Tränen nicht mehr zurück zu halten vermochte. Etwas beschämt bin ich schon, während ich diesen Zeilen so freizügig beschreibe. Welche Gefühle mich dabei berühren und was ich zutiefst dabei empfunden habe, davon wissen nur noch die beiden, die mich auf diesem Wegstück zufällig begleitet haben und bin nun froh darüber. Jetzt liegt also auch mein Stein dort.
Danach komme ich mir vor wie nach einem Bußgang, befreit von allen Lasten physischer und psychischer Art. Ich habe plötzlich ein ganz euphorisches Gefühl, nichts kann mir mehr etwas anhaben. Alles, was ich bisher auf dem Weg aushalten musste: Hitze, Kälte, Regen, Hagel, Sturm, Nebel, Hunger, Durst, Schmerzen, an Herz an den Knien, in der Schulter, all das ist vergessen, ja wie verschwunden. Wenig später verletze ich mir beim Aufsteigen aufs Rad das Schienbein, – es musste später genäht werden, – selbst diesen Schmerz spüre ich nicht mehr. Hier habe ich erfahren, die Mühe meiner Pilgerreise hat sich gelohnt.
Noch ein paar Aufs und Abs, vorbei an einer halb zerfallenen Behausung werden wir mit viel Geschnatter von zwei schneeweißen Gänsen begrüßt, Manjarin, ein verlassenes Dorf heute eine sehr karge Pilgerherberge.
Der Weg fällt nun schroff ab ins Tal; auf etwa 20 km fällt die Straße nahezu 1000 m Höhe bergab, alle Vorsicht ist geboten, weil es zum Teil sehr holperig ist. El Acebo noch recht hoch oben, das seine Existenz den vorbei ziehenden Pilgern verdankt, dann Molinasecca schon tief unten im Tal, beides archaisch wirkende Orte, sie sind wahrscheinlich außerhalb der Saison weitgend ausgestorben. In Pontferrada (= Eisenbrücke), weil die damals baufällige Steinbrücke bereits seit dem 18. Jahrhundert mit starken Eisenklammern zusammengehalten wird) begrüßt man im Refugio jeden Neuankömmling mit einem Glas frisch gepressten Orangensaftes. Und ich werde mit meinem blutigen Verband am Schienbein als Verwundeter bevorzugt behandelt; denn ich bekomme wegen meine Verletzung ein Vierbettzimmer im 1. Stock der Herberge. So eine Blessur hat, auch wenn sie nicht so schlimm ist, also auch sein Gutes.
Am Abend bin ich mit dem Rad immerhin noch ein etliche Kilometer bis ins Krankenhaus gefahren; die klaffende Wunde musste dringend versorgt, also genäht werden, um Komplikationen zu vermeiden. Später gehe ich zur Abendmesse, um einen rasch vor der kleinen Kapelle aufgestellten Tisch steht ein knappes dutzend Leute aus aller Herren Länder und feiert gemeinsam das Abendmahl. Danach fahre ich noch ein bisschen mit dem Rad, mal ohne Gepäck, durch die Altstadt, vorbei an der mächtigen, wehrhaften Templerburg. Hier, schon sehr weit im Westen Europas, geht die Sonne erst viel später unter; es ist halb elf und dennoch ziemlich hell. Ich sitze auf einem altehrwürdigen Platz vor der Kathedrale bei einer kühlen caña de cerveza.