Verschiedentlich bin ich schon gefragt worden, wann ich die Reihe meiner Kindheitserinnerungen einmal fortsetzen werde; ja gewiss will ich das, aber ich stehe dabei vor einem Problem. Entweder, ich erfinde immer neue Geschichten, die dann aber nur noch wenig mit der Realität zu tun haben, oder aber ich bleibe nüchtern und sachlich bei der Wahrheit, wie es sich wirklich zugetragen hat. Ich denke, ich muss da einen Mittelweg finden.
Dazu ein Gedanke vorab:
Während eines Urlaubs in Südfrankreich traf ich in Seillan, einem kleinen Dorf in der Provence, auf die Spuren von Jean Cocteau, dessen 50. Todestag in diesem Jahr gedacht wurde. Vom ihm stammt die folgende Aussage:
Ich ziehe die Legende der Geschichte vor. Die Geschichte, aus einer Wahrheit entstanden, wird allmählich immer mehr verfälscht und so zur Unwahrheit.
Die Legende hingegen, aus einer Unwahrheit geboren, wird allmählich aussagekräftiger und schließlich zur Wahrheit.
Ich für meinen Teil werde mich, wie gesagt, mit meinen Geschichten womöglich irgendwo in der Mitte aufhalten; denn es sind nun bald schon 70 Jahre her, seit ich das alles erlebt habe. Wenn ich also meine Erlebnisse erst jetzt niederschreibe, der Leser möge mir verzeihen, weiß ich wirklich nicht mehr so ganz genau, wo die Grenze zwischen der Realität und meiner Vorstellungskraft liegt.
Jedenfalls will ich mich bemühen, meine Geschichte doch so getreu wie möglich darzustellen, damit sich der eine oder andere vielleicht auch noch darin wiederfindet.
Und nun zur Geschichte:
Es war kurz nach dem Krieg vielleicht im Herbst 1947; wir bewohnten, wie bereits berichtet das obere Stockwerk des Hauses in der Beckenstraße 69, das damals dem Spengler Urban Kaufmann gehörte. Dort also hatten wir für uns eine kleine Wohnküche vielleicht 16 m² groß; wir, das sind unsere Mami, der Opapa, meine drei Schwestern Brigitte, Inge und Ursula und ich. Manchmal kam auch noch eine weitere Person zu Besuch, Omama, ein Onkel, es war also für uns alle doch recht beengt. Links und rechts neben dem Wohnraum die Kammern, zwei kleine Schlafzimmer, eng, feucht und kalt, von einem eigenen Bett ganz zu schweigen, ich schlief zusammen mit meinem Opapa. Beheizt wurde nur der Hauptraum mit einem riesigen Küchenherd, nebenan wuchsen im Winter die herrlichsten Eisblumen an den Wänden, also nicht nur am Fenster.
Wen wundert es, dass ich es in der räumliche Enge nie lange aushielt. Gespielt wurde halt meistens draußen auf der Straße mit den Geschwistern und mit den Nachbarskindern und das eigentlich bei jedem Wetter.
Mit zunehmendem Alter wagte ich es, mich etwas weiter von der häuslichen Nähe zu entfernen, um alleine die Welt zu erkunden, um die unendlich vielen kleinen Dinge für mich zu entdecken.
An solch einem Septembertag, wahrscheinlich schon in der ersten Klasse, vielleicht während meiner allerersten Herbstferien, war ich also allein draußen unterwegs, schon vorbei am großen Wegkreuz, so auf halbem Weg nach Oberlauringen. Es gab damals natürlich noch nicht die neue Straßenführung.
Ja es war ein schöner, sonniger Herbsttag, und ich sehe von weitem, dass da einige Fuhrwerke aus Richtung Oberlauringen heran nahen. Nun schon deutlich näher erkenne ich eine kostbare Ladung, die Fuhrwerke sind hochbeladen mit frisch geernteten Kartoffeln, die von einem gräflichen Gutshof zur Bahnstation Stadtlauringen gebracht werden sollten, um dort auf Eisenbahnwagons zum Weitertransport verladen zu werden. Damals gab es ja noch die Schmalspurbahn mit Endstation Stadtlauringen.
„Kostbare Ware“, denn damals so kurz nach dem Krieg, gab es noch nicht all zu viel für uns zu Essen, wir Kinder waren in dieser Zeit oft auf die Bauernhöfe der Nachbarschaft verteilt, wo wir regelrecht mit durchgefüttert wurden.
So haben wir die wirkliche Not, hungern zu müssen, auch gar nicht so deutlich verspürt. Dennoch weiß ich von meiner Mutter, dass sie in Sorge um uns über Land ging und in ihrer Not bettelte oder von den zugeteilten Lebensmittelkarten Zigarettenmarken abtrennte zum Tausch gegen Lebensmittel, hier ein Säckchen Mehl in der Bahnbrückenmühle, dort ein kleines Stück Fleisch beim Metzger aus dem Nachbardorf.
Wie ich so auf der holprigen Straße die schaukelnden Fuhrwerke immer näher auf mich zukommen sah, wurde in diesem Augenblick vielleicht jenes instinktive in mir Bewusstsein gewachsen, den Vater, der noch in der Kriegsgefangenschaft war, als Ernährer der Familie ersetzen zu müssen. Hin und und wieder purzelte nämlich eine Kartoffel herunter und rollte tanzend bis zum Straßenrand oder in den Graben.
Wie im Schlaraffenland dachte ich, die Geschichte kannte ich ja schon, ich lief mit mein kurzen Beinchen flugs hinterher, hob das wertvolle Gut auf und sammelte es an einer Stelle am Straßenrand.
Ich hatte bereits ein schönes Häufchen, aber was sollte ich nun damit anfangen? Nach Hause bringen, dazu hatte keine Tasche. Und wenn ich jetzt schnell einen Korb oder etwas Ähnliches besorge? Diese Überlegung hatte einen Haken: die Kartoffel könnten ja einen anderen Besitzer finden noch ehe ich zurück bin.
Meine Lösung schließlich, die fand ich genial; ich zog am Böschungshang mit dem Stock eine Furche, legte die kostbaren Früchte Stück für Stück dort hinein und deckte sie danach mit Erde wieder zu. Vielleicht waren es zwei oder drei Reihen, die so am Abhang der Böschung ganz ähnlich einem kleinen Weinberg entstanden waren.
Meine bäuerliche Tätigkeit hat mich sicherlich mehr als eine Stunde gekostet und ich war am Abend bestimmt sehr, sehr müde.
Erzählt habe ich niemandem von meine Unternehmung, so vergaß ich im Laufe der Zeit auch selbst meine Kartoffelpflanzaktion
Die Zeit verging, Weihnachten kam, der Winter waren endlich überstanden, er war heuer gar nicht so streng gewesen wie in der Jahren zuvor und möglicherweise war dies die wunderliche Erklärung. die wir während eines gemeinsamen Osterspaziergang in Richtung Oberlauringen entdeckten.
Wir erreichten nach einer Weile an die Stelle, an der ich im vergangenen Herbst meine Kartoffelpflanzung getätigt hatte. Niemandem hatte ich es bisher ein Sterbenswörtchen davon verraten, und da entdeckte ich plötzlich die Reihe der frischen Kartoffelpflänzchen schon über das Gras der Böschung hinaus gewachsen.
Das sind meine, erzählte ich voller Stolz und berichtete, wie sich das Ganze im vergangen Jahr zugetragen hatte.
Es war ja fast ein Wunder, meine Pflanzung war wegen des wirklich milden Winters nicht erfroren.
Mein Opapa, auch meine Mutter und Schwestern waren voll des Lobes über meine gärtnerische Tätigkeit. Großvater half mir die Pflanzung ein wenig vom Unkraut fern zu halten und bauten mit vier Stöcken und einer Schnur ein Rechteck um das Beet.
Es sollte bedeuten das dieser Anbau nun mir gehörte. Mindestens einmal pro Woche lief ich hinaus um nach dem Rechten zu sehen, wie meine Pflanzung gedieh und zur Blüte kam. Es gab eine Plage mit Kartoffelkäfern in diesem Jahr wir Kinder mussten sie auf den Feldern einsammeln, nur auf meinen Kartoffeln waren keine zu finden.
Da hast du ja nochmal Glück gehabt bestätigte der Großvater mir, er erstammte nämlich von einem Bauernhof und war darum im Gartenanbau sehr erfahren.
Dann rückte die Zeit der Ernte immer näher und die Kartoffel konnten endlich ausgemacht werden. Ihr könnt euch meine Spannung vorstellen, als ich einen Stock nach dem andern nicht mit der Hacke, sondern mit meinen bloßen Händen auszumachen begann. Große Freude, denn es war eine beachtliche Ernte. Voller Stolz brachte ich in einem Handkarren ein kleines Säckchen, etwa 25 kg mit nach Hause.
большой глава (boltschoi klawa) das klingt mir noch im Ohr, so nannte mich liebevoll unser russisches Kindermädchen, was soviel bedeutet wie „großer Kopf“ oder etwas schmeichelnd „helles Köpfchen“. Ein wenig stolz erlaube ich mir die Umkehr des Sprichwortes: „Ein kluger Bauer kann auch dicke Kartoffeln ernten“.